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Russ

Abiturienten im 17.-Mai-Umzug

Abiturienten im 17.-Mai-Umzug

Kommt man Anfang Mai nach Norwegen, trifft man sie fast überall, denn die russ sind wieder unterwegs. Damit sind keineswegs die Einwohner von Norwegens nordöstlichem Nachbarn gemeint, sondern schlicht und einfach die hiesigen Abiturienten. Die sind Ende April mit der Schule durch, und das wird in den folgenden drei Wochen ausgiebig gefeiert.

Man erkennt die Schulabgänger schon von weitem — sie tragen typischerweise eine knallrote, häufig bedruckte Latzhose (wobei der Hosenlatz i.d.R. herunterhängt), meistens einen weißen Pullover und eine rote Schirmmütze (Abgänger der Wirtschaftsgymnasien tragen blau statt rot). Außerdem fahren viele Abiturienten im russebuss durch die Gegend. Das sind Busse jeglicher Größe, vom VW-Bus bis zum Linienbus, meistens älteren Baujahrs. Diese Fahrzeuge wurden von einer mehr oder weniger großen Gruppe — abhängig von den Kosten, die für den Bus anfallen — angeschafft und in den Monaten vor den Abiturprüfungen mit großem persönlichen und finanziellen Aufwand zu Partyfahrzeugen umgebaut. Häufig liegt der Ausstattung des Busses ein Konzept zu Grunde, viele Gruppen haben aufwändig gestaltete Homepages zu ihrem Bus eingerichtet.

ein typischer „russbuss”

ein typischer „russbuss”

Wichtige Ausstattungsmerkmale solcher Busse sind eine kräftige Musikanlage, die auf dem Dach montiert ist, eine eingebaute Bar, gepolsterte Sitzecken usw. — der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. Mache Busse sind derart edel ausgestattet, dass man sich eigentlich nur schwer vorstellen kann, warum so ein großer Aufwand betrieben wird — schließlich geht es doch nur darum, drei Wochen lang zu feiern. So werden denn auch viele Busse nach Ende der Feierlichkeiten an die nachfolgende Generation weiterverkauft, die die Fahrzeuge ihrerseits wieder nach ihren Vorstellungen umbauen, veredeln usw.

Diesen Schulabschlussfeiern liegt eine jahrhundertealte Tradition zugrunde. Das Wort russ kommt vom lateinischen cornua depositurus und bedeutet soviel wie „das Horn ablegen”. In der Zeit, als Norwegen noch unter dänischer Herrschaft stand, mussten die jungen Norweger zum Studieren nach Kopenhagen ziehen, weil es in Norwegen keine Universität gab. Um in die Universitas Hafniensis — wie die Universität von Kopenhagen hieß — aufgenommen zu werden, mussten die Kandidaten ein Examen bestehen, das examen artium. Danach mussten die angehenden Studenten der Reihe nach vor den Zensor treten. Auf der Stirn trug jeder Kandidat ein Horn, das bei bestandenem Examen abgenommen wurde (das deutsche Sprichwort „sich die Hörner abstoßen” entstammt dieser studentischen Tradition).

Der Begriff comua depositurus wurde auf die letzten drei Buchstaben reduziert, schließlich hängte man noch ein s an, und so kam es zur Bezeichnung russ für die Abiturienten in Norwegen. Die moderne Geschichtsschreibung begann im Jahre 1904, als deutsche Studenten nach Norwegen kamen und rote Mützen trugen (inzwischen hatte Norwegen natürlich längst seine eigene Universität). Diese Mode wurde von den Norwegern schnell aufgenommen — schon im darauffolgenden Jahr trugen viele Schulabgänger die heute charakteristischen roten Mützen. Seit 1916 gibt es die blåruss, die Absolventen der Wirtschaftsgymnasien, die sich in blau statt in rot kleiden.

Die Feierlichkeiten der Abiturienten ziehen sich eigentlich über das gesamte letzte Schuljahr auf der videregående skole hin. Monatlich finden Partys in angemieteten Partyräumen, Kneipen o.ä. statt, es wird an der Abiturientenzeitung gearbeitet, Ausflüge (skitur, Danmarkstur) gemacht, Landestreffen (in Stavanger und Lillehammer) veranstaltet. Nebenbei wird an den Bussen gewerkelt, und weil das alles viel Geld kostet, wird natürlich auch viel gejobbt — für die Schule bleibt wohl kaum noch Zeit übrig ...

Während der Partyzeit gilt es darüberhinaus möglichst viele „Trophäen” zu sammeln. An den roten Mützen baumelt eine Kordel, an der man diese Trophäen befestigt. Trophäen gibt es beispielsweise für das Küssen eines Polizisten, für das „Sammeln” von Bußgeldern und für das Bestehen von verschiedenen Mutproben (z.B. nackt durch die Fußgängerzone laufen) und dem Erbringen von Trinkleistungen.

Klar, dass das alles viel Geld kostet — im ganzen Land werden die Abiturienten im Jahre 2004 im Mai rund 165 Millionen Kronen auf den Putz hauen. Aufsehen erregte eine Gruppe von Abiturientinnen, die zur Finanzierung ihres Busses als Statisten in einem Hardcore-Porno mitwirken wollten. Aufgrund des Wirbels, der um diese Sache entstand, haben die Mädels dann aber doch davon Abstand genommen.